Michelle Obama als US-Präsidentin? Distanz zur Politik als Trumpf (2024)

Laut Umfragen hätte im Moment nur eine einzige Kandidatin klare Chancen gegen Trump: die Frau von Ex-Präsident Obama. Dass sie überhaupt ins Spiel gebracht wird, erstaunt. Ihre Beliebtheit weist auf einen wunden Punkt im Politbetrieb hin.

David Signer, Chicago

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Michelle Obama als US-Präsidentin? Distanz zur Politik als Trumpf (1)

In den USA läuft die Diskussion heiss, ob Joe Biden nach seinem blamablen Auftritt bei der TV-Debatte vom 27.Juni im letzten Moment durch einen anderen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl ersetzt werden soll, und wenn ja, durch wen.

Eine kürzlich durchgeführte Umfrage von Reuters/Ipsos versuchte herauszufinden, wer momentan als demokratische Alternative zu Biden am meisten Chancen hätte. Die Vizepräsidentin Kamala Harris, der kalifornische Gouverneur Gavin Newsom, die Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer, oder sonst jemand? Das Ergebnis war überraschend und seltsam. Es stellte sich nämlich heraus, dass nur eine einzige Person klare Chancen gegen Trump hätte, und zwar Michelle Obama. Sie bekäme 50 Prozent der Stimmen, Trump 39 Prozent. Das Ergebnis ist deshalb seltsam, weil die Ehefrau von Barack Obama, der zwischen 2009 und 2017 Präsident war, immer klar sagte, dass sie keinerlei politische Ambitionen habe. Die Umfrage unter 1070 registrierten Wählern fand am 1. und 2.Juli statt, also nach der TV-Debatte.

«Verrückt, in die Politik zu gehen»

Die 60-jährige Michelle Obama stammt aus Chicago, absolvierte die renommierte Princeton University und die Harvard Law School. Sie war als Rechtsanwältin tätig, hatte jedoch nie ein politisches Amt inne. Vielleicht ist gerade dies der Grund, dass sie sich ein makelloses Image bewahren konnte: Sie musste nie in die Niederungen der Realpolitik mit ihren Kompromissen und moralischen Konzessionen hinabsteigen. Zwar behaupten ihre Anhänger gerne, sie verfüge über acht Jahre «Erfahrung» im Weissen Haus – als ob sie selbst schon fast Präsidentin gewesen wäre, bloss weil sie dort wohnte.

Als First Lady engagierte sie sich im Bereich der Armutsbekämpfung, der Hilfe für die Familien von Armeeangehörigen, gesunder Ernährung und im Kampf gegen Übergewicht unter Jugendlichen. 2018 veröffentlichte sie ihre Memoiren «Becoming», einen Bestseller, aus dem auch ein Dokumentarfilm hervorging. 2023 erschien ihr Lebensratgeber «The Light We Carry». Schon als First Lady eckte sie oft durch ihre undiplomatischen und ironischen Äusserungen an, galt aber als überaus populär. Ihr wird ein grosser Einfluss auf die Politik Barack Obamas nachgesagt, was er selbst bestätigte. So redigierte sie etwa regelmässig seine Reden. Auch nach dem Auszug aus dem Weissen Haus blieb sie äusserst beliebt. In einer jährlichen Gallup-Umfrage rangierte sie von 2018 bis 2020 als «die am meisten bewunderte Frau» in den USA.

Nach dem Ende von Obamas Präsidentschaft gründete er zusammen mit seiner Frau im Jahr 2018 das Medienunternehmen Higher Ground Productions, das zum Beispiel den Oscar-prämierten Dokumentarfilm «American Factory» produzierte.

Michelle Obama als US-Präsidentin? Distanz zur Politik als Trumpf (2)

Michelle und Barack Obama haben zwei Töchter. Erst kürzlich bestätigte Barack Obama nicht nur, dass seiner Frau die Politik ein Graus sei, sondern auch, dass sie den beiden Mädchen früh eingetrichtert habe, es wäre verrückt von ihnen, in die Politik zu gehen.

Distanz zur Biden-Familie

Während Barack Obama den Präsidenten Biden in seinem Wahlkampf unterstützt und öfters mit ihm zusammen auftritt, hält sich Michelle Obama auffällig zurück. Es heisst, das habe auch private Gründe. Das einstmals herzliche Verhältnis zwischen den beiden Familien hat sich offenbar nach der Trennung von Joe Bidens Sohn Hunter und seiner früheren Frau Kathleen Buhle abgekühlt. Michelle Obama ist eng mit Buhle befreundet. Die Scheidung im Jahr 2017 stand im Zusammenhang mit Hunter Bidens damaliger Drogensucht. Michelle Obama störte sich offenbar daran, wie Buhle mehr oder weniger aus der Familie Biden verbannt wurde.

Wegen dieser Differenzen wird gelegentlich spekuliert, dass Michelle Obama keine Hemmungen hätte, Biden herauszufordern. Demokratische Schwergewichte wie Newsom oder Whitmer müssen viel mehr Rücksicht auf die Führungsriege der Partei nehmen.

Umgekehrt ist ihr Hass auf Trump kein Geheimnis, vor allem seit dieser die Behauptung aufstellte, Barack Obama sei gar nicht in den USA, sondern in Afrika geboren worden und habe deshalb kein Recht gehabt, Präsident zu werden. Auch äusserte sie sich wiederholt empört über Trumps frauenfeindliche Bemerkungen. Allerdings reicht diese Ablehnung wohl kaum als Motivation, ins Rennen um die Präsidentschaft einzusteigen.

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Michelle Obama als Projektionsfläche für Wünsche

Bemerkenswert ist, dass öfters gesagt wird, Kamala Harris habe keine Chance, Präsidentin zu werden, weil sie sowohl eine Frau wie auch «nicht weiss» sei. Bei Michelle Obama scheint das weniger ins Gewicht zu fallen. Allerdings ist auch sie Attacken der übelsten Art ausgesetzt. So kursiert zum Beispiel im Internet seit Jahren die Behauptung, sie sei in Wirklichkeit ein Mann mit dem Übernamen «Big Mike». Als «Beweis» zirkulieren ein manipuliertes Bild aus den frühen Jahren von Michelle und Barack Obamas Partnerschaft sowie eine Wählerregistrierung, auf der sie angeblich unter Geschlecht «männlich» angekreuzt hat. Auch dieser «Beweis» ist längst als Fälschung entlarvt, wird in den sozialen Netzwerken aber weiterhin zitiert, auch als Beleg dafür, dass Barack Obama schwul sei.

Schon heute behaupten Gegner Bidens gerne, Obama habe – als «Schattenpräsident» – eigentlich das Sagen im Weissen Haus. Eine Kandidatur Michelle Obamas sähen sie dann wahrscheinlich als Versuch ihres Mannes, sich indirekt eine dritte Amtszeit zu erschleichen.

In Chicago, Michelle Obamas Heimat, sieht man immer öfter Sticker auf den Autos, die «Michelle Obama 2024» fordern. Der Slogan und die Umfrageergebnisse, so irrational sie sein mögen, sind Ausdruck einer Wunschvorstellung, die man durchaus ernst nehmen kann. Sie signalisieren, nicht zuletzt auch an Biden und die Demokraten, dass man sich eine radikale Alternative zu den beiden alten Männern im Rennen wünscht. Sie besagen wohl, dass sich viele Amerikaner eine frische, vitale, charismatische Person mit Stil an ihrer Spitze wünschen, von der sie sich wirklich repräsentiert fühlen, weil sie nicht nur ihren Kopf, sondern auch ihr Herz erobert. Sie pfeifen auf die Politmaschinerie, die ihnen am Ende einen halbtoten Routinier vorsetzt. Sie würden sogar für jemanden ohne jegliche politische Erfahrung stimmen – solange die Person Engagement, Authentizität und Herzlichkeit ausstrahlt.

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Werner J. Marti

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